Eigentlich war das ja einer der Gründe, warum ich nicht mehr weitermachen wollte. Dieses ewige und immer häufigere Ausschließen von Etwas, was ohnehin extrem unwahrscheinlich war. Aber eben nur unwahrscheinlich und man wollte es eben sicher ausschließen. Offenbar haben wir es mit einem besonderen Phänomen unserer Zeit und unseres Kulturkreises zu tun. Speziell hierzulande ist das Bedürfnis, das Verlangen nach absoluter Sicherheit und Gewissheit, am besten nach Garantien besonders ausgeprägt. Dabei wissen wir es doch alle: die einzige Gewissheit und Garantie ist die, eines Tages sterben zu müssen. Dieses immense Bedürfnis nach Sicherheit, Versicherung und Abklärung hat sicher tieferliegende Gründe. Es ist wie die Vorstufe der immer häufiger anzutreffenden Angststörungen, die alle mit einem nicht zu stillenden Bedürfnis nach ständiger Versicherung einhergehen. Doch was liegt alldem zugrunde? Es scheint, als hätten die meisten Menschen in unserer Gesellschaft das Gefühl, die gesunde Wahrnehmung für den eigenen Körper verloren, seien geradezu abgeschnitten davon, von sich selbst. Der Versuch dann durch Informationen (meist aus dem Internet) sich zu beruhigen und zu versichern, bewirkt in der Regel das Gegenteil. Auch moderne Technik, wie z.B. smart-watches, hat neben unbestreitbaren Vorteilen auf der anderen Seite das Potential solche Tendenzen zu verstärken. Auch leben viele Menschen, junge oder alte, alleine und haben damit wenig Möglichkeiten sich im täglichen Zusammenleben gegenseitig zu unterstützen oder zu korrigieren.
Auch geringste Beschwerden müssen heute unbedingt fachärztlich abgeklärt werden und zwar möglichst sofort und möglichst unter Einsatz aller zu Verfügung stehender, modernster Technik. Ein einfaches Gespräch, eine kurze gezielte Untersuchung auch von einem Nicht-Facharzt, ist wenig wert. Es muss schon bitte etwas aufwändiger und eben vom Fachmann sein. Schätzungsweise die Hälfte aller Facharzttermine wird von, oft jungen, Patienten belegt, die die umgehende Abklärung ihrer Bagatell-Beschwerden für ihr gutes Recht halten. Dies ist unter Umgehung eines Hausarztes ja jederzeit möglich. Aber, und das ist noch schlimmer, auch Hausärzte geben diesem Wunsch offensichtlich gerne nach oder initiieren ihn sogar. Das ist manchmal an Absurdität kaum zu überbieten und verstärkt wiederum dieses Bedürfnis oder besser diesen Anspruch. Genau das tun wir Fachärzte dann auch, indem wir diesen Auftrag dann ernstnehmen und ausführen. Sei es, weil wir niemanden verärgern wollen, sei es, weil wir denken „Kleinvieh macht auch Mist, was soll`s“. Und so greift dieses unsinnige Durchschleusen von möglichst vielen Patienten immer mehr um sich und generiert eine teure Luxusmedizin. Immer mehr unnötige Untersuchungen, die notwendigerweise häufig nur sehr oberflächlich erfolgen und bei denen sich der Eindruck verfestigt, dass eigentlich niemand mehr wirklich interessiert, was genau dabei gefunden wurde, sondern einfach nur, dass es gemacht wurde. Irgendwie scheinen beide Seiten auch an einer Art Kontroll-Zwang zu leiden. Sehr viele Termine beinhalten größtenteils unsinnige oder unnötige Kontrollen von geringen Veränderungen ohne Krankheitswert oder sogar von Normalbefunden. Notwendigerweise fehlen dann Termine für Patienten, die sie wirklich brauchen. Dazu kommt noch ein Thema, das in der Öffentlichkeit gerne ausgeklammert wird, nämlich das der sog. „no shows“, also von Terminen, die zwar vereinbart aber dann, in der Regel ohne abzusagen, nicht wahrgenommen werden. Dies betrifft offenbar alle Praxen, teilweise in einem Ausmaß von bis zu 20%. Da es sich oft um Neu-Patienten handelt gibt es deswegen bislang auch kaum Möglichkeiten für Praxen sich dagegen zu wehren.
Wie kann es sein, dass so ein unsinniges System sich etabliert hat? Die Antwort ist ganz einfach: weil eigentlich alle es so wollen, lieber an der Oberfläche bleiben wollen. Natürlich wollen wir alle gute Medizin haben bzw. gute Medizin machen. Sagen wir. Dafür müssten Patienten aber bereit sein von ihrer Anspruchshaltung und Flatrate-, „click and collect“ -Mentalität runterzukommen und mehr Verantwortung für ihre eigene Gesundheit zu übernehmen. Z.B. einmal im Jahr die Halsschlagader untersuchen zu lassen und wenn es nicht schlechter geworden ist weiter zu rauchen, statt einfach damit aufzuhören.
Wir Ärzte müssten bereit sein dieses System in Frage zu stellen, statt es mit Hamster-Rad-artigem Aktionismus am Laufen zu halten, ohne Zeit oder Energie nach links oder rechts zu schauen. Vielleicht müssten wir uns ja eingestehen, dass das, was wir so täglich machen mit dem, was wir mal machen wollten, kaum noch etwas zu tun hat und dass wir leider zum größten Teil selbst daran schuld sind, weil wir unseren vielleicht ursprünglich vorhandenen Idealismus täglich vermeintlichen wirtschaftlichen Vor- oder Nachteilen unterordnen. Es ist wie eine Spirale. Wirtschaftliche Zwänge gebieten noch mehr Patienten durchzuschleusen, je mehr wir durchschleusen und Termine anbieten, desto mehr Patienten kommen, so ähnlich wie mit den Autos und den Straßen. Je mehr Patienten wir untersuchen, desto weniger wert wird dann aber die einzelne Leistung und zwar in jeglicher Hinsicht und dadurch verstärkt sich wieder der Antrieb noch mehr zu machen.
Mir fallen in diesem Zusammenhang immer wieder die von meinem Lehrer, Walther Lechler, schon vor Jahrzehnten beschriebenen Formeln ein, die ein menschliches Grundproblem nach wie vor sehr treffend beschreiben:
- Instant pleasure
- Keine Verantwortung
- Maximale Sicherheit
Wer möchte nicht sofortiges Vergnügen, Spaß, Freude ohne dafür etwas tun zu müssen. Umrühren und fertig !
Das Bedürfnis nach Maximaler Sicherheit scheint wie oben ausgeführt ganz im Vordergrund zu stehen und dafür wollen wir aber keine Verantwortung übernehmen, sondern das soll uns von außen, eben von der Medizin durch jederzeit zur Verfügung stehende Untersuchungen gegeben werden.
Die in der öffentlichen Diskussion reflexartig geäußerte Forderung nach mehr Geld, womit dann scheinbar alle Probleme zu lösen wären, bleibt an der Oberfläche. Gerne sehen wir uns dabei als Opfer abstrakter Umstände, übersehen aber vollkommen, dass wir selbst diese Umstände mit erschaffen haben bzw. aufrecht erhalten. Natürlich würde eine bessere Bezahlung der Assistenzberufe (MFA, KS) helfen, dass mehr Fachkräfte zu Verfügung stünden. Geld im sozialen Bereich ist immer knapp, während es anderswo scheinbar grenzenlos zu Verfügung steht. Geld bzw. angemessene Bezahlung hat auch immer etwas mit Wertschätzung zu tun. Aber wir sollten uns eingestehen, dass damit nicht alle, womöglich sogar gar keine wirklich wichtigen Probleme gelöst werden würden. Dies ist eigentlich immer nur durch Umdenken und eine geänderte Haltung und Einstellung zu erreichen, die sich unabhängiger macht von äußeren Bedingungen, sondern etwas mehr aus sich selbst heraus will.
Dr. med. Harald Reinemer